Türme gibt es viele in und um Darmstadt herum: Kirchtürme und Schlosstürme, den Rathaus- und den Museumsturm, den Weißen Turm, Feuerwehrtürme, den Turm auf der Ludwigshöhe, Bismarcktürme, Aussichtstürme und so fort. Aber einer ist einzigartig unter ihnen: der Hochzeitsturm auf der Mathildenhöhe. Von weither, vom östlich gelegenen Oberfeld ist er zu sehen und von den im Westen an Darmstadt vorbeirasenden ICEs erscheint er wie die Vision einer schützend über Darmstadt gehaltenen Hand. Und wer den Hochzeitsturm besteigt, dem gewährt er einen offenen Blick über die ehemalige Residenz- und Landeshauptstadt und weite Sicht in den Taunus, die Rheinebene und die vorderen Höhen des Odenwalds.
Das war nicht immer so. Denn, ganz früher war das hügelige Gelände ein Weinberg. Um 1800 wurde er zu einem lichten Park umgestaltet. Hier spazierten Darmstädter Bürger und repräsentierten die kultivierte Welt des Biedermeier. Damals wurde der obere Teil des Hügels mit Platanen bepflanzt, die fünfschiffig so angeordnet sind, dass die Menschen das Gefühl haben, sich in einer Natur-Kathedrale zu befinden. Erst seit 1833, als Großherzog Ludwig III (1806-1877) die bayerische Prinzessin Mathilde (1813-1862) ehelichte, heißt die Anlage Mathildenhöhe. Um die Mitte des 19. Jahrhunderts fehlte es den 55 000 Einwohnern in Darmstadt an Brauch- und Trinkwasser. Deshalb wurde 1879/80 im Osten der Mathildenhöhe ein Reservoir gebaut, das 4 000 cbm Wasser speichern konnte. Der höher gelegene Behälter wurde mit Erde abgedeckt und mit Büschen und Bäumen bepflanzt. Eine Treppe führte durch die gärtnerische Anlage zu einer Plattform, von wo aus die Spaziergänger Darmstadt überblicken konnten.
Am 21. Dezember 1901 wurde die Ehe von Großherzog Ernst Ludwig (25.11.1868-9.10.1937) mit Prinzessin Victoria Melita (25.11.1876-2.3.1936) geschieden. Drei Jahre später, am 21. November verlobte sich der Großherzog mit Prinzessin Eleonore zu Solms-Hohensolms-Lich (17.9.1871-16.11.1938). Deswegen beschäftigten sich die Vertreter der Stadt Darmstadt mit den Vorbereitungen einer feierlichen Hochzeit des Paares, die für den 2. Februar 1905 geplant war. Für „wahrzunehmende Veranstaltungen“ stellte die Stadtverordnetenversammlung einen Kredit von 20 000 Mark bereit. Außerdem sollte dem Hochzeitspaar eine, von Josef Maria Olbrich (22.12.1867-8.8.1908) entworfene Truhe geschenkt werden. Der Wiener Architekt hatte den Darmstädtern 1901 mit der Ausstellung „Ein Dokument deutscher Kunst“ eine neue künstlerische Welt erschaffen. Er beriet sich erneut mit dem Großherzog und beide schwärmten von einem weithin sichtbaren Zeichen, einer „monumentalen Erhebung, einer Landmarke, die zugleich ein charakteristisches Stadtbild“ liefere, einem Turm also, der als „Hochzeitsturm ein Denkmal von vielfacher Bedeutung“ sein könnte.
Schon im Jahr 1900 hatte Olbrich verspielte Skizzen zu einem Turm erarbeitet. 1905 nahm er die Phantasien wieder auf und zeichnete mehrere Entwürfe, die ihm aber alle zu schwerfällig erschienen. Als jedoch die Stadtverordneten 330 000 Mark am 1. März 1906 für die „Hessische Landesausstellung 1908“ bereit stellten wurden auch der Hochzeitsturm und ein Ausstellungsgebäude bewilligt. Daraufhin machte sich Olbrich erneut an die Arbeit und zeichnete genaue Pläne, wie er sich den Turm vorstellte. Im Darmstädter Tagblatt vom 7. und 8. März 1906 beschrieb Olbrich seine Idee: „Die senkrechte Masse des Hochzeitsturmes, verbunden mit den horizontal gelagerten Baukörpern des Ausstellungshauses, bilden eine monumentale Einheit, die wie ein Wahrzeichen aus dem Stadtgebilde aufwächst. Aus der Ferne wie in der Nähe gesehen, erfülle diese eine Denkmalpflicht: Stumme, doch ewige Kunde zu geben von der Begeisterung einer Bürgerschaft zu einer Zeit frohester glücklichster Lebensfeier!“ Die Baubeschreibung war anschaulich begleitet von großartigen Aquarellen, die ihre Wirkung nicht verfehlten. So konnte der Turm zusammen mit den Ausstellungshallen in den Jahren 1907 und 1908 von dem Hochbauamt der Stadt Darmstadt errichtet werden.